Wenn Männer auf die Fünfzig zugehen, beginnt oft der Boden unter ihren Füssen zu wanken. Unabweisbare Signale des herannahenden Alters scheuchen immer mehr lästige Fragen auf. Ungelebtes Leben und nichtverwirklichte Träume drängen sich mächtig in den Vordergrund und stellen manch ein scheinbar perfekt eingerichtetes Lebensarrangement auf den Kopf. Was ist los? Was steckt dahinter? Was ist zu tun?
Klaus Heer*
Es hört sich an wie eine fade Klischee-Story. Aber kein Mann ist davor gefeit, dass ihm eines Tages geschieht wie dem 46jährigen Rolf Wegmüller, Ingenieur HTL, in gehobener Stellung bei der Telecom beschäftigt, verheiratet, Vater zweier fast erwachsener Töchter, Präsident der örtlichen Schulkommission, Einfamilienhausbesitzer. Rolf Wegmüller ist aus dem Häuschen. Für seine Frau nicht wieder zu erkennen.
Die 31jährige Eliane ist aus heiterem Himmel in seinem Leben eingefahren. Nächtelang bleibt er weg, und ganze Wochenenden verreist er mit seiner Geliebten irgendwo in die Berge. Verstecken will er gar nichts – im Unterschied zu Legionen anderer klimakterischer Männer. Seine Frau konfrontiert er mit den ungeschminkten Tatsachen. «Ich habe lange genug sinnlos geschuftet für Firma und Familie. Keiner hat mich je gefragt, was ich selber eigentlich wolle. Am wenigstens ich selbst. Jetzt weiss ich es: Ich will leben! Und zwar in vollen Zügen. Was Eliane mir bringt, übertrifft meine lebenslangen Träume. Ich bin aufgewacht. Lust und Lebenslust sind plötzlich da mit Wucht. Niemand wird mich jetzt am Leben hindern!»
Was ist geschehen? Wie sehen «erfolgreiche» Männer-Lebensläufe aus, die auf derartige Sprünge hinauslaufen? Aus der Sicht des «erwachten» Mannes in der Lebensmitte wird der Erfolg mit einem Mal eine fragwürdige Grösse. Das jahrzehntelange zwanghafte Extremklettern auf der Karriereleiter erscheint jetzt als einseitige Verkrampfung. Was erreicht wurde, musste offensichtlich mit verpassten Lebenschancen teuer bezahlt werden.
Eine der grossen Chancen im Leben jedes Mannes ist die Frau. Fast nicht auszudenken ein männliches Dasein ohne Liebe, Lust und Leidenschaft! Doch die Männer sind merkwürdige Wesen. Wenn sie jung sind, verlieben sie sich zwar liebend gern in schöne Frauen und heiraten schliesslich auch mit Begeisterung eine von ihnen. Aber kaum sind sie im Hafen der Ehe eingelaufen, beginnt die Sache mit der Frau unmerklich schräg zu laufen. Sie selbst verstehen je länger je weniger.
Da sind diese verfluchten unrealistischen Erwartungen. «Wenn man sich liebt, ergibt sich alles von selbst» – eine regelrechte Wahnidee! Erotische Anziehung und sexuelle Erfüllung in einer langdauernden Beziehung am Leben zu erhalten ist doch in Wirklichkeit ein ausgesuchtes Kunststück. Ohne sorgfältige und ausdauernde Investition an «Beziehungsarbeit» welkt und schrumpft die Blüte der Begehrlichkeit.
«Man muss halt reden miteinander!» heisst es. Dieses einfältige Rezept ist ebenso richtig wie anspruchsvoll. Sobald aber die ersten unvermeidbaren Unstimmigkeiten auftauchen, gerät der Mann in die Defensive. Er sieht sich zunehmend in der ungemütlichen Lage, dass er sich wehren und verteidigen muss. Wogegen denn?
Meistens gegen Wünsche und Ansprüche, Forderungen und Ueber-Forderungen, Klagen und Anklagen seiner Frau.
Schliesslich, nach einigen Jahren, steht alles schief: Sie ist enttäuscht und unglücklich, er fühlt sich diffus schuldig. «Ich komme nicht an ihn heran, bin völlig allein in der Ehe», denkt sie. «Ich kann machen, was ich will – alles ist falsch», denkt er. Beide denken eine Menge, doch «geredet» wird höchstens noch in der traumatischen Extremsituation des Krachs. Meistens gibt der Mann sein Bestes, um weitere derartige Abstürze zu verhindern. «Wieder entzieht sich der Kerl!» quittiert die Frau.
Solche Teufelskreise verlaufen sich mit fortschreitenden Jahren in der öden Kampfarena sprachlosen ehelichen Nebeneinanderherfunktionierens. Schliesslich ist man fast bis zur Unkenntlichkeit verheiratet. Sehnsüchte bleiben auf der Strecke. Dem unwirtlichen Beziehungsklima fallen vor allem die feinen Bedürfnisse nach Zärtlichkeit und Sexualität zum Opfer. Das eheliche Zölibat ist vermutlich in bestandenen Ehen gang und gäbe. Man redet zwar nicht drüber – man wüsste auch gar nicht wie. Aber man leidet unter dem stummen Entzug. Der Frau fehlt häufig Haut, dem Mann Schleimhaut. Da kompensiert man halt, Männer vorzugsweise mit Arbeit und Aufstieg – bis... ja bis plötzlich Eliane kommt zum Beispiel.
Die neue Frau, die «in sein Leben tritt», verpasst dem Mann mit einem Schlag eine neue Optik. Er sieht sich auf einmal in einem ganz anderen Licht. Rabiate Fragen springen ihm ins Gesicht: Soll das alles gewesen sein, dieses Leben als Arbeitstier, Geldesel und Ehetrampel? Habe ich mir das je so vorgestellt? Soll ich mich jetzt tatsächlich weiter abrackern und durchwursteln bis Bypass oder Alzheimer? Wozu eigentlich? Habe ich denn als Mann bereits abgedankt? Droht jetzt das Gespenst der Impotenz? Bleiben mir bald nur noch die Schrecken des Alters?
Das darf doch nicht sein! Das Ende ist plötzlich real absehbar und provoziert eine dramatische Bewusstseinveränderung. So geht es nicht weiter!
Eine Frau wie Eliane federt die Erschütterung zunächst einmal ab. Nach über dreissig Jahren wieder einen Liebesbrief schreiben, ein Gedicht sogar! Dieser Glanz in ihren Augen, dieser Schauer über den Rücken! Eine Frau, die will! Die mich will! Vielleicht überhaupt das erste Mal in meinem Leben, dass eine Frau mich wirklich will – als Mann! Da wachen all die weggesteckten Wünsche auf. Alle Sinne schütteln jahrzehntelangen Aktenstaub ab und beginnen zu vibrieren. Nach der zehrenden Hatz auf berufliches Fortkommen, nach dem beinah wunschlosen ehelichem Unglück jetzt dieser Balsam für Leib und Seele: die Harmonie zeitlosen Zusammenseins, die Erregung hellwacher Berührung, die Leidenschaft gegenseitiger Bestätigung.
Natürlich mokieren oder entsetzen sich die Leute rundherum über den liebestollen Wechseljahr-Mann. Viele stopfen lieber hemmungslos Flimmerbilder, Kalorien, Alk, Rauch, Pillen und andere legale Drogen in sich hinein. Den Verdämmernden fällt nicht auf, wie sie und andere dabei verdämmern. Umso empörender sticht ins Auge, wenn einer plötzlich aufwacht. Uebrigens: Wenn sich eine Frau die Freiheit nimmt, in den Wechseljahren den Mann zu wechseln und erotisch neu aufzublühen – dann ist alles noch viel schlimmer: Ihr sind allgemeine moralische Konsternation und unverhohlene Verachtung sicher. Hier muss man sich auf einiges gefasst machen; die Frauen sind nämlich am Aufholen.
Ich will nichts verniedlichen. Kein Ausbruch aus einer Ehe läuft glimpflich ab. Weh tut’s immer, meistens sehr sogar. Manchmal wird’s chaotisch und brutal. Das Ereignis kann wie ein entfesselter Hurrikan mit zerstörerischer Wucht über die Beziehung fegen und eine elende Trümmerlandschaft zurücklassen. Betroffen ist nicht nur seine Frau. Die Kinder bekommen häufig die Folgen ebenfalls zu spüren. Auch wenn sie bereits halbwüchsig oder erwachsen sind. Gewöhnlich ist es aber nicht die «Untreue» selbst, welche die verheerenden Flurschäden anrichtet. Es ist vielmehr das Unvermögen beider Partner, gemeinsam mit der belastenden Situation zurechtzukommen.
Keine lebendige Biografie verläuft linear und berechenbar. Auch in einem auf Hors-Sol- Hochleistung getrimmten Männerleben ist nicht zuverlässig gesichert, dass sich der hohe Produktivitätsstandard von der Konfirmation bis zur Pensionierung durchziehen lässt. Ebensowenig erweist sich die stabilste und tadelloseste Ehe als bruchfest, wenn Dinge geschehen, mit denen niemand gerechnet hat. «Midlife Crisis» ist für Männer in den Wechseljahren zwar kein Fremdwort. Aber der Wechsel, der angesagt ist, überrascht und überfordert doch viele.
Sexualität zum Beispiel ist doch für die meisten Männer im mittleren Alter ein Leistungsfach, mit dem sie ihre liebe Mühe haben. Ihren Potenz-Zenith hatten sie mit zwanzig überschritten. Seither ging es unmerklich, aber stetig bergab (siehe Kasten). Jahrelange Gewöhnung und Dauerabnützung drücken zusätzlich auf Lust und Leidenschaft. Ein schwerverdaulicher Brocken für das männliche Selbstwertgefühl!
Da die überwiegende Mehrzahl der Männer aller Altersstufen nicht imstande ist, ihre Ejakulation zu kontrollieren, ist es begreiflich, dass viele Frauen mit Sex möglichst wenig zu tun haben wollen. Noch dringender als sexuelle Funktionstüchtigkeit vermissen Frauen indes bekanntlich verbale Zuwendung, nichtfordernden Körperkontakt und hingebende Zärtlichkeit. Auch mit dieser Kritik sind die Männer überfordert.
Doch in der klimakterischen Liebschaft kann das alles ganz anders sein. Die neue Frau und ihre jugendliche Straffheit bringen männliche Schlaffheit unversehens auf Vordermann. Stummes erotisches Brachland blüht plötzlich auf: Der Mann kann mit einem Mal reden, berühren, geniessen, hat Zeit und Musse für Feines und Intimes – Qualitäten, von denen die eigene Frau stets nur träumen konnte. Verständlich, dass sie ausflippt beim Gedanken, dass schliesslich sie es war, die jahraus jahrein Freud und Leid mit ihrem Mann geteilt hat, während die «andere» jetzt abrahmt. Jahrelange Altlasten drücken schwer auf das Klima und scheinen allen unbeschwerten Spielraum abgeschnürt zu haben. Da stellt sich für viele Männer die existentiell schwergewichtige Frage, wie sie die Herbststürme in ihrem Leben überstehen können, ohne dass Ehe und Familie dabei zerschellen. Die wenigsten sind nämlich letztlich so kopf- und hirnlos, dass sie in den Wechseljahr-Wirren mutwillig alles aufs Spiel setzen wollen, was sie zu zweit ein Eheleben lang aufgebaut haben.
Viele Ehen sind dringend sanierungsbedürftig, spätestens wenn die Kinder flügge geworden sind und das Nest leer ist. Die externen Erfahrungen des Mannes mit gewandelter, unbeschwerter Sexualität beispielsweise könnten auch intern fruchtbar gemacht werden. Schweigend ist dies allerdings unmöglich. Man(n) muss herausrücken mit seinen neuen Vorstellungen und Bedürfnissen. Die paartherapeutische Erfahrung zeigt ja auch klar, dass nichts das intensive Paargespräch nachhaltiger anfacht als intensive Beziehungserlebnisse ausserhalb der Ehe.
Die Chancen eines Neustarts stehen meist gar nicht schlecht. Die sexuelle Erlebnisfähigkeit der Frau wird gewöhnlich durch deren Klimakterium nicht wesentlich beeinträchtigt – im Unterschied zum Mann. Sie bleibt auf dem Niveau erhalten, das die Frau im Lauf der letzten Jahre erreicht hat. Der Mann ist vielleicht sexuell weniger effizient als früher, dafür aber nach seinen jüngsten Erfahrungen durchlässiger und empfänglicher. Damit kommt er aber der spezifischen Erlebnisweise der Frau wesentlich näher. So wird neue Intimität zwischen den beiden Partnern möglich – sofern die zwei es wollen und ihr dumpfes Komplott des Schweigens aufheben.
Noch etwas wird offensichtlich beim Ausbruch des mittelalterlichen Mannes aus seiner Ehe: Die Ehepartnerin ist überfordert mit dem umfassenden Anspruch, hilfreiche Zeugin der abgründigen Veränderungen ihres Mannes zu sein. Der Mann braucht jetzt einen Mann. Einen dicken Freund, der für alles jederzeit ein offenes Ohr hat, was ihn zur Zeit innerlich beutelt. Für die absurdesten Phantasien, die verdrehtesten Widersprüche. Auch nachts um zwei, wenn’s sein muss! Was für die meisten Frauen ein Leben lang selbstverständlich ist, lassen Männer nur widerstrebend, wenn überhaupt, an sich heran: das Vertrauen und die Offenheit gegenüber einem Menschen des gleichen Geschlechts. Ein Mann ohne verlässliche herzwarme Männerfreundschaft ist eine Zumutung für seine Frau.
Wenn also Eliane (31) über Nacht bei Rolf Wegmüller (46) einfährt, braucht für seine Ehe nicht aller Tage Abend angebrochen zu sein. Im Gegenteil. Es kann sehr wohl das abrupte Ende eines Dämmerzustandes bedeuten und dazu einladen, sich für neues Leben zu entscheiden.
Klimakterium des Mannes
Das «Climacterium virile» ist 1910 erstmals wissenschaftlich beschrieben worden. Bis heute ist sich die (männlich beherrschte) Medizin nicht einig, ob es männliche Wechseljahre «objektiv» überhaupt gibt. Nach dem «Roche-Lexikon Medizin» geht zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr des Mannes die Hormonproduktion (Testosteron) zurück. Aus diesem Grunde wird das vegetative Nervensystem labil, Herz- und Kreislaufbeschwerden sind zu erwarten, Potenz und Libido nehmen ab. Konkret messbar sind die quantitativen und qualitativen Einbussen beim Ejakulat. Andere massgebliche Autoren gehen lediglich davon aus, dass bei Männern im mittleren Alter häufig die sexuelle Lust und Potenz schwinden. Die Erektion wird unvollständig oder versagt sogar ganz. Die «Refraktärzeit» wird drastisch verlängert: Mit fünfzig muss der durchschnittliche Mann damit rechnen, dass er nach einer Ejakulation runde 24 Stunden braucht, um überhaupt wieder erregbar zu sein, geschweige denn erneut ejakulieren zu können. Gleichzeitig beobachtet man Müdigkeit, Verstimmungen, Gereiztheit und gelegentlich sogar Hitzewellen. Es sei aber nicht zweifelsfrei erwiesen, dass tatsächlich eine hormonelle Umstellung vor sich gehe (wie bei der Frau). Tatsache ist: Ein Mann in der «Abänderung» kann nicht mehr leisten, was er als 20Jähriger zu leisten imstande war. Nie in seinem Leben war er allerdings derart gefordert wie jetzt. Vor allem beruflich wird das Maximum von ihm verlangt. Gleichzeitig kommt sein lebensgeschichtlicher Zeithorizont in Sicht. Die Endlichkeit seines Daseins und drängende Sinnfragen lassen sich nicht mehr beiseiteschieben. Auch in der Ehe kann einiges in Rutschen kommen, wenn die Kinder sich anschicken, auszuziehen. Alle diese tiefgreifenden Veränderungen können beim Mann eine kritische Stimmung entstehen lassen, die man heute mit «Midlife Crisis» umschreibt. Selbst das intakteste Lebensgefühl muss Risse riskieren. |
Klaus Heer, 22. Juli 1996